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Ein notwendiges Beben

Aktualisiert: 24. Feb. 2018

von Christian Hartwig Steinau.


Beobachter sprechen von nichts weniger als einem Beben, das am 17. Dezember 2015 von Patrick Boucherons Antrittsvorlesung am Collège de France ausgegangen ist. Mit einem »Ce que peut l’Histoire« überschriebenen Vortrag räumte der just auf einen Lehrstuhl berufene Historiker mit einer Vielzahl von Vorurteilen über seine Disziplin auf. Boucheron wendete sich gegen ein Verständnis seines Fachs, das die Vielfalt der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen auf die identitäre Suche nach einem Ursprung reduziert. Denn »die Geschichte« sei niemals vorbei. Im Gegenteil. Wie, so fragte Boucheron in seiner Rede, sollte man junge Leute sonst davon überzeugen, dass sie niemals zu spät geboren sein?


Auf beeindruckende Weise verband das neue Mitglied der ehrwürdigen Institution seinen Vortrag mit den jüngsten Anschlägen auf die französische Hauptstadt am 13. November 2015. Boucheron spannte ein Panorama europäischer Stadtgeschichte aus der Renaissance bis in das Paris der Gegenwart, dessen einleuchtende Darlegung den Inhalt seiner stärksten Argumente unterstrich. Denn so bedinge die Gestaltung der Zukunft und das Auffinden ihrer Handlungsspielräume eine kritische Emanzipation derjenigen, die sich mit Geschichte beschäftigen.


Um seine Erläuterungen zu akzentuieren, begann Boucheron seine Ausführung mit einer persönlichen Schilderung eines Rundgangs am Place de la République, dem zentralen Erinnerungsort nach den Anschlägen im Januar und November:

»Die Zeit verging, die Nächte und Tage, der Regen, der Wind, der die Kinderzeichnungen verblassen ließ, die Gegenstände verwehte, die Parolen auslöschte, ihre Wut abmilderte. Und man sagte sich: Das ist ein Moment, der eine bewusste Erinnerung in den Himmel emporsteigen lässt, so lebendig wie schwach. Nur das ist eine Stadt, eine Art und Weise die gelebte Vergangenheit aufscheinen zu lassen, die verstreuten Fragmente unter den Steinen zusammenzufügen; das alles ist die Geschichte, sofern dass sie die friedensstiftende Langsamkeit der Dauer mit der Schroffheit der Ereignisse zu vereinen weiß.«


Gebannt folgte das Publikum Boucherons Rede, die in der These gipfelten, dass sich die Geschichtswissenschaft nicht mit der Erklärung von historischen Machtverhältnissen oder Machtwechseln zufrieden geben solle (wie also Könige auf Könige folgten, sich Nationen und Staaten in gegenseitigen Wettstreit geformt und heraus gebildet haben), sondern dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gerade auch solche Bestrebungen in der Blick nehmen solle, die die Stadt anders zu organisieren und zu denken versucht haben. Als beispielhaft kann deswegen das 2013 in der éditions Seuil erschienene Werk Conjurer la peur – Sienne, 1338. Essai sur la force politique des images gelten, dessen deutsche Übersetzung der Wolff Verlag gerade vorbereitet (Patrick Boucheron: Gebannte Angst. Siena 1338, übersetzt von Sebastian Wilde, ISBN: 978-3-941461-33-8, erscheint 2017).


Als Experte für die italienische Stadtgeschichte des trecento und quattrocento explizierte Boucheron in seinem Vortrag die in seinen Studien realisierte Aufmerksamkeit, die Möglichkeit anderer Welten in den Blick zu nehmen. »Was die Geschichte kann, das ist auch noch ungeschehenen Zukünften ihr Recht zuzusprechen, ihren unvollendeten Potenzialitäten.«


Zeitungsartikel im Nouvel Observateur mit Auszügen aus der Antrittsvorlesung

http://bibliobs.nouvelobs.com/idees/20151218.OBS1634/histoire-le-college-de-france-vire-a-gauche.html


Pressemitteilung zur Antrittsvorlesung

http://www.college-de-france.fr/media/presse/UPL8677482630731159683_DP_P_Boucheron.pdf



Audioaufzeichnung der Antrittsvorlesung im Hörsaal Marguerite de Navarre-Marcelin Berthelot

http://www.college-de-france.fr/site/patrick-boucheron/inaugural-lecture-2015-12-17-18h00.htm

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